Warum erlaubt die Politik, dass Menschen in überfüllten Zügen sitzen, aber will zweihundert schweigenden Maskenträgern den Theaterbesuch verbieten? So verliert sie ihre Autorität.
Im „Heute Journal“ sagte der Regierende Bürgermeister von Berlin noch vor wenigen Tagen einen Satz, der eine ganze Branche aufatmen ließ: »Unser Problem ist nicht der Theaterbesuch«. Nicht das Bühnenspiel vor einer kleinen, schweigenden, maskierten Zuschauermenge, sondern die privaten Feierlichkeiten ließen die Infektionsraten explodieren, »alle Situationen, in denen es nicht geordnet abläuft«. Im Deutschen Theater läuft es geordnet ab. Man steht draußen vor dem Eingang bis eine Klingel ertönt, dann geht man maskiert in den Zuschauerraum, setzt sich auf seinen Platz mit Abstand zu den Anderen, schweigt, schaut, staunt oder schäumt, applaudiert verhalten – das aerosollastige Bravo-Rufen ist im Theater sowieso schon seit längerem außer Mode gekommen – und macht sich schnell wieder aus dem Staub.
Keine Kurzkritik an der Garderobe, kein gemeinsames Weinglasschwenken in der Lobby. Die Theater geben landauf, landab ihr Bestes, um die gefürchtetste Nachrichtenzeile zu verhindern: »Superspreading im Theater«. Und doch, obwohl bisher keine einzige Infektion durch einen Theaterbesuch belegt ist, droht die Politik in einigen Regionen den Bühnenhäusern jetzt mit einer Verschärfung der Corona-Auflagen. […] Wenn die Politik zulässt, dass Menschen in überfüllten Bahnabteilen eng zusammensitzen und mit herabhängender Maske telefonieren, aber verbietet, dass zweihundert schweigende Zuschauer in einem großen Theaterhaus mit gehörigem Abstand voneinander einen „Don Karlos“ schauen, dann riskiert sie ihre Autorität. Man muss nicht mit falschem Pathos die „Kulturnation“ anrufen oder im Norbert Blümschen Überschwang schwören: »Ihr Theater ist sicher«, um mit aller Entschiedenheit darauf hinzuweisen, dass die Theater keine »kleineren Übel« sind, mit denen man widerstandslos umspringen kann, um seine gefährdete Handlungsfähigkeit zu beweisen. Wer die Theater schließt, nimmt einer ganzen Gesellschaft die Hoffnung auf Gegenwelt und Unterhaltung. Jetzt, wo wir mit bangem Blick auf einen trüben Winter schauen, kann man nur sagen: ohne hellerleuchtete Theaterhäuser wird er noch viel düsterer.
Simon Strauss: Lasst die Theater offen!, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.2020
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