EURO-STUDIO Landgraf / Schauspielbühnen in Stuttgart, Altes Schauspielhaus
BIEDERMANN UND DIE BRANDSTIFTER
Ein Lehrstück ohne Lehre von Max Frisch
ca. 19. Februar – 15. März 2026
Mit Peter Bause (Preisträger des INTHEGA-Vorstandes 2010), Hellena Büttner (ausgezeichnet als Schauspielerin des Jahres 2015 an den Schauspielbühnen in Stuttgart, Altes Schauspielhaus), Oliver Burkia, Harald Hauber, Susanne Theil, Christian Werner, Jan Henning Kraus
7 Mitwirkende
Regie: Harald Demmer
(Regisseur von „Tod eines Handlungsreisenden“ mit Helmut Zierl in der Titelrolle. 1. INTHEGA-Preis 2018 und 2012 von „ZWEIFEL“ mit Wolfgang Seidenberg, Renan Demirkan, Karin Boyd u. a.)
Uraufführung: 29.3.1958 Schauspielhaus Zürich
Deutsche Erstaufführung mit der Uraufführung des „Nachspiels“: 28.09.1958 Städtische Bühnen Frankfurt am Main.
Aufführungsrechte: Suhrkamp Theater Verlag, Berlin
Werkgeschichte
Als Reaktion auf die Errichtung einer kommunistischen Diktatur in der damaligen Tschechoslowakei, bei der auch »die bürgerliche Regierung der ‘Revolte‘ den Weg bereitete«*, hatte Frisch im Januar desselben Jahres unter dem Titel „Burleske“ ein – auch schon Dialoge enthaltendes – ausführliches 1:1 Exposé der Handlung seines Parabelstücks geschrieben. Als ihn die Brandstifter wiederholt um Streichhölzer gebeten hatten, lauteten die Schlussüberlegungen Biedermanns: »Du gibt’s auch das, ein Heftlein mit gelben Streichhölzern, und am andern Morgen, siehe da, bist du verkohlt und kannst dich nicht einmal über deine Geschichte verwundern …«*
In seinem aus dieser Skizze entwickelten ersten Hörspiel „Herr Biedermann und die Brandstifter“ schrieb Frisch über die Titelfigur: »Es handelt sich um die Darstellung eines durchschnittlichen Bürgers, der ein etwas schlechtes Gewissen hat … und der ein gutes haben möchte, ohne irgendetwas zu verändern «.**
In dem erstmals am 26.3.1953 vom Bayerischen Rundfunk gesendeten Hörspiel gab es noch keinen Chor der Feuerwehrleute. Der Verfasser selbst kommentierte das Verhalten Biedermanns.
Kurt Hirschfeld, Dramaturg, Regisseur und ab 1961 Direktor des Schauspielhauses Zürich, der Max Frisch ein paar Jahre zuvor angeregt hatte, Theaterstücke zu schreiben, überredete ihn 1957 dazu, das Hörspiel in ein Theaterstück umzuarbeiten.***
*Max Frisch: Tagebuch 1946-1949. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1984, Seite 249.
**Karasek 1971, S. 138 f. Quelle siehe oben Spalte 2. Seite138, Seite 139***.
Aufführungsgeschichte
Der schon als Romanschriftsteller bekannte Autor wurde durch die Uraufführung auch als Bühnenautor berühmt
Uraufführung: 29.3.1958 am Schauspielhaus Zürich
zusammen mit dem Einakter „Die große Wut des Philipp Hotz“
Regie: Oskar Wälterlin
mit Gustav Knuth (Biedermann), Ernst Schröder (Brandstifter Josef Schmitz), Boy Gobert (Brandstifter Eisenring)
Bühnenbild: Max Frisch
»Gemeinsame Pointe der Einakter ist die Vorführung, wie sich zwei Zeitgenossen – zunächst der Haarwasser-Fabrikant Gottlieb Biedermann, sodann der Schriftsteller Dr. Philipp Hotz – aus Angst, sich zu blamieren, falsch verhalten, obwohl sie ziemlich genau wissen, dass sie sich falsch verhalten«. Aus DER SPIEGEL 16/1958
Nicht nur in Deutschland eroberte das »mit mathematisch- knappem Kalkül erzählte«* Stück über den »feigen, spießbürgerlichen Mitläufer, dessen Anpassungsbereitschaft, Phantasielosigkeit und Egoismus der Gewalt alle Türen öffnet«* das Theaterrepertoire. Auch 50 ausländische Theater u. a. in Warschau, Stockholm, London, Prag, Madrid, Rom brachten das „Lehrstück ohne Lehre“ des damals 46-jährigen Autors nach der Uraufführung heraus.
*Dr. Klaus Hübner in: Knaurs großer Schauspielführer. Droemersche Verlagsanstalt Knaur Nachf., München 1985. Seite 219.
Deutsche Erstaufführung
mit der Uraufführung des „Nachspiels“: 28.9.1958 Städtische Bühnen Frankfurt am Main
Inhalt
»Theater als moralische Anstalt mit fast unmoralisch amüsanten Mitteln« nannte die Schweizer Weltwoche diesen zeitlosen, zum Welterfolg gewordenen Klassiker des modernen Theaters, dessen »Aktualität« – darauf weist der renommierte Literaturwissenschaftler Walter Hinck hin – »wohl nie aufhören« wird. Herr Biedermann ist ein Virtuose der Vertrauensseligkeit. Obwohl sie durch die vielen Brände in der Stadt offensichtlich ist, ignoriert er die Gefahr und spielt sogar bewusst mit dem Feuer, als er die Brandstifter bei sich aufnimmt. Als allgemeingültiges Beispiel sowohl für die, die sich lieber heraushalten, bis sich die Fakten so zugespitzt haben, dass sie nicht mehr aufzuhalten sind, als auch für die weltweit agierenden, Lunte legenden Brandstifter, die von Anfang an deutlich machen, dass sie einen Flächenbrand vorbereiten, hat Max Frisch dem Stück den beunruhigenden wie warnenden Untertitel „Ein Lehrstück ohne Lehre“ gegeben.
Max Frisch praktizierte Moral ohne Predigt und Zeitkritik ohne Propaganda.
Marcel Reich-Ranicki, Die Welt, 6.4.1991.
Den vor 65 Jahren geschriebene Theaterdauerbrenner, der zu den relevanten Werken im Deutschunterricht gehört, hat Marcel Reich-Ranicki als eines von 43 Dramen in seinen „Der Kanon. Die deutsche Literatur. Dramen“ aufgenommen.
MAX FRISCH über GOTTLIEB BIEDERMANN
Gottlieb Biedermann ist ein Bourgeois.* Ich finde ihn keinen Bösewicht, wenn auch als Zeitgenossen gefährlich. Um ein gutes Gewissen zu haben – und das braucht er, um Ruhe zu haben –, belügt er sich halt. Gottlieb möchte als guter Mensch erscheinen. Er glaubt sogar, dass er das sei: indem er sich selber nicht auf die Schliche kommt.**
*Aus Walter Schmitz (Hg): Materialien zu Max Frisch »Biedermann und die Brandstifter«. Zitiert nach Max Frisch mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Volker Hage. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1983. rm 321. Seite 82.
** Max Frisch: Wer sind die Brandstifter? In: Luis Bolliger, Walter Obschlager, Julian Schütt (Hgg.): jetzt: max frisch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. Seite 146,147. Kürzungen und
daraus folgende geringe Textumstellungen sind nicht gekennzeichnet.
MAX FRISCH über die BRANDSTIFTER
Wer denn eigentlich mit den beiden Brandstiftern gemeint sei, die Frage ist mir in zwanzig Jahren mindestens von tausend Schülern gestellt worden. Ich meine, die beiden gehören in die Familie der Dämonen. Sie sind geboren aus Gottlieb Biedermann selbst: aus seiner Angst, die sich ergibt aus seiner Unwahrhaftigkeit. Das feuergefährliche Benzin auf dem Dachboden des Herrn Biedermann habe sich inzwischen vermehrt, notierte Frisch 1978, es reiche für einen Weltbrand. Was soll da noch zum Lachen sein?*
*Aus Schmitz 1983.
„Biedermann …“ ist das berühmteste Stück von Frisch und eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Bühnenwerke überhaupt.
Der berühmte Autor und Journalist Friedrich Torberg: Ein »wichtiges Stück eines wichtigen Autors«, das ein »Brillantfeuerwerk« zündet.
Quelle: Volker Hage*
EIN LEHRSTÜCK OHNE LEHRE
eine Weltanschauungsgroteske
mit Ulk, Ironie und tieferer Bedeutung.
Der Zeitgenosse Biedermann holt die Brandstifter selbst ins Haus. Er leistet dem Schlimmen immer
wieder Vorschub. Aus falschem Biedersinn und Herzensfeigheit reicht er dem Brandstifter sogar die Streichhölzer. Trotzdem will er nicht wahrhaben, dass er mitschuldig ist – im Grunde der Schuldigste von allen …
Friedrich Luft in: Die Welt, 28.2.1959. Zitiert nach Harenberg Schauspielführer. Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien GmbH & Co. KG, Dortmund 1997. Seite 297.
„Biedermann und die Brandstifter“
heißt im Untertitel „Ein Lehrstück ohne Lehre“. Die Unbelehrbarkeit des Helden Biedermann, der aus Feigheit sehend blind ist, seinem Untergang zu entkommen sucht, indem er ihn selbst mit inszeniert, diese Blindheit hat Frisch gewissermaßen zum Gattungsmerkmal erhoben: nicht nur im Stück zeigt er keine Einsicht und Wirkung, auch durch das Stück glaubt er an keine Änderung«.
Hellmuth Karasek »Biedermann und die Brandstifter«. Veröffentlicht in: Thomas Beckermann (Hg.): Über Max Frisch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1971. es 404. Seite 145.
MAX FRISCH
»Die Frage, was die Menschen, die ihrem Ursprung nach Moralisten waren, zu Gewalttätern hat werden lassen, führt zu der Frage: Wie schuldig ist unsere Gesellschaft? Nicht als Sympathisanten, sondern als Biedermänner schuldig, durch familiären und institutionalisierten Unverstand«.
Gekürztes Zitat aus seiner Rede am 17.11.1977 auf dem SPD-Parteitag in Hamburg. Abgerufen am 10.5.2023.
Das Stück entlarvt eine Geisteshaltung, die der Technik des Totalitären zum Erfolg verhilft. „Biedermann und die Brandstifter“ ist eine politische Parabel, die ihre kritische Kraft nicht aus der Entlarvung der Lüge bezieht, sondern aus der biedermännischen Wehrlosigkeit gegenüber Verbrechern, die von Anfang an sagen, was sie wirklich wollen.
DER WOLF IM SCHAFSPELZ
Mit einem genauen Blick auf die Figurenkonstellation bezeichnete Max Frisch „Biedermann und die Brandstifter“ als »Bündnis des Lammes mit dem Wolf«. Er bezieht sich auf die Weisheit einer schon über 2000 Jahre alten Fabel, um dem Theaterpublikum einen – wohl leider immer aktuell bleibenden – moralischen Spiegel vorzuhalten. Er nutzt die dem altgriechischen Dichter Äsop zugeschriebene Fabel „Das Lamm und der Wolf“, um zu zeigen, dass der Wolf immer ein Argument dafür finden wird, dass das Lamm im Unrecht ist.
Der als Hausierer auftretende Brandstifter Schmitz bleibt – selbst wenn er sich in ein Schafsfell kleidet – ein Wolf. Dass er dem Schaf durch sein: ich-kündige-genau-an-was-ich-plane-Schafsfell scheinbar eine Chance gibt, der Gewaltspirale zu entkommen, ändert nichts an dem Vorsatz, das Lamm zu töten, sondern dient nur der Rechtfertigung seiner Handlungen und der Beruhigung seines Gewissens.
Der Dichter Phaedrus spitzt die Dynamik dieser zum Flächenbrand führenden moralischen gut/böse = naiv/gefährlich-Konfrontation in dem ersten Text seiner in Versform geschriebenen Fabelsammlung noch dadurch weiter zu, dass er den Wolf an die erste Stelle setzt. Das Fazit seiner in Versform geschriebenen Version von „Der Wolf und das Lamm“ lautet: »Diese Fabel ist wegen der Menschen geschrieben, die aus erfundenen Gründen Unschuldigen Gewalt antun«.
EIN LEHRSTÜCK OHNE LEHRE
Wer ist eigentlich schuld, wenn wir uns betrügen lassen:
Wir selbst oder die Betrüger?*
Ist ethische und politische Moral und Verantwortung erlernbar?
Diese Frage stellt Frisch dem Theaterpublikum in seinem zur Zeit in vieler Hinsicht leider wieder erschreckend aktuellen „Lehrstück ohne Lehre“. Gottlieb, der Muster-Biedermann begünstigt seinen Untergang, weil er eine mögliche Gefahr zwar erkennt, sie aber dadurch, dass er – man soll nicht immer gleich das Schlimmste annehmen, wenn man einen Menschen nicht kennt* – alle warnenden schwarzen Anzeichen für weiß erklärt und verdrängt. Nur durch die vielen tatenlosen Biedermänner, die dadurch zu Mitschuldigen wurden, dass sie – in der Hoffnung verschont zu bleiben – selbst dann noch bewusst wegschauten, als es überall schon brannte, und durch diejenigen, die blauäugig davon überzeugt waren, dass niemand derart barbarische Absichten im Voraus preisgeben würde, konnte Hitler zum Brandstifter Europas werden. Denn so wie die Brandstifter von Beginn an keinen Zweifel daran lassen, was sie vorhaben, kündigte nicht nur er in seinem 1924-1926 geschriebenen Bestseller „Mein Kampf“ an, was er plant, sondern auch Wladimir Putin enthüllte schon 1994 bei einer Konferenz in Petersburg seine imperialen Ziele.
*Zitiert nach Cornelie Ueding, Deutschlandfunk Kultur, 29.3.2018.
INTHEGA-PREIS-PRODUKTIONEN
mit Hellena Büttner und Peter Bause:
DIE PHYSIKER
3. INTHEGA-Preis 2020
JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN
2. INTHEGA-Preis 2015
VOR SONNENUNTERGANG
2. INTHEGA-Preis 2007
HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI
2. INTHEGA-Preis 2002
DER HAUPTMANN VON KÖPENICK
2. INTHEGA-Preis 1997
DER KAUKASISCHE KREIDEKREIS
1. INTHEGA-Preis 1996
Biografien
PETER BAUSER
Dank seiner schauspielerischen Virtuosität und Varianz – er absolvierte sein Studium an der Theaterhochschule in Leipzig – war Peter Bause nicht nur an seinem Stammhaus, dem Berliner Ensemble, einer der meistbeschäftigten Schauspieler der ehemaligen DDR. Auch im Fernsehen war er in eigenen Satire- und Showsendungen zu sehen. Mittlerweile ist Peter Bause in ganz Deutschland populär… mehr
HELLENA BÜTTNER
Die Schauspielerin ist ein richtiges Theaterkind: Sie entstammt einer Familie, die in der fünften Generation Theatermenschen hervorgebracht hat. Ihr Vater war Schauspieler in Berlin und Dresden (später dort auch Intendant) und spielte zusammen mit Gustaf Gründgens und Heinrich George. Hellena Büttner besuchte traditionsgemäß die Staatliche Schauspielschule in Berlin und konnte noch während des Studiums 1971 ihr erstes Engagement am Volkstheater… mehr