EURO-STUDIO Landgraf
CYRANO DE BERGERAC
Schauspiel in fünf Akten von Edmond Rostand
ca. 5. – 15. Dezember 2021
ca. 7. Januar – 7. Februar 2022
Mit Martin Lindow (in der Titelrolle) u. a.
ca. 10 Schauspiel*innen spielen die über 25 Rollen
Die Premiere von „Cyrano de Bergerac“
und die Folgen für Rostand
Die Premiere von „Cyrano de Bergerac“ hatte etwas von einem Naturereignis. Wie eine Leuchtrakete stieg sein Held am Theaterhimmel über Frankreich auf – und mit ihm der Name seines Erfinders Edmond Rostand.
»Erstaunlicher, wundervoller, unwiderstehlicher Abend! Nichts ist schöner und bewegender als ein ganzes Publikum voll Bewunderer, die ihre Begeisterung herausschreien. Von Akt zu Akt, ohne zu ermüden, applaudierte man …«, schrieb André Lénéka am 15.12.1918 in La Rampe über die Uraufführung von „Cyrano de Bergerac“. Wenn man diesen hymnischen Bericht liest, ist es nicht mehr verwunderlich, dass Paris zum Fanclub des Autors und Cyrano, der langnasige Dichter, zum Popstar wurde. Die Auslagen der Geschäfte füllten sich mit Cyrano-Hüten, es gab Cyrano-Bonbons für die Kinder und Cyrano-Wein für die Erwachsenen und kein Pariser Pâtissier, der auf sich hielt, hatte nicht die Mandeltorte nach dem im II. Akt von Zuckerbäcker Ragueneau verratenen Rezept zum Verkauf.
In vielen Anspielungen und Zitaten weist Rostand in der Verskomödie auf das historische Vorbild des facettenreich schillernden Titelhelden hin: Es ist Hercule Savinien Cyrano de Bergerac, ein unangepasster, gesellschaftspolitischer Freigeist, der mehr als 250 Jahre vor dem Uraufführungsjahr dieser meisterhaften romantischen Komödie, geboren wurde. Wie Rostands Heißsporn und Sprachartist war auch der historische Cyrano Raufbold und begnadeter Rhetoriker, der mit Worten ebenso gut fechten konnte, wie mit dem Degen.
Inhalt
Dass Rostand diesen Draufgänger zu einem der unglücklichsten Liebenden der Weltliteratur macht, ist ein Geniestreich. Denn sein Cyrano ist seiner übergroßen Nase wegen Frauen gegenüber geradezu hilflos. Seinem Freund Le Bret vertraut er an, dass er zärtliche Gefühle für seine schöne Cousine Roxane hegt, aber nicht wagt, sich ihr zu offenbaren. Was er nicht ahnt: Das Herz seiner Cousine schlägt für den hübschen, aber ziemlich einfallslosen Christian de Neuvillette, einem neuen Musketier in Cyranos Regiment. Weil Roxane um Christians Leben fürchtet und nichts von Cyranos Gefühlen für sie ahnt, bittet sie ausgerechnet Cyrano, auf ihren Liebsten aufzupassen. Als Christian ihn wenig später fragt, ob er ihn bei seinem Werben um Roxanne unterstützen würde, reagiert Cyrano erstaunlich: Er beginnt, stellvertretend für Christian, Liebesbriefe an Roxane zu schreiben und ihr all das zu gestehen, was er ihr selbst niemals sagen darf.
Höhepunkt der Selbstverleugnung ist die berühmte nächtliche Szene, in der Christian unter Roxanes Balkon steht und ihr all die liebessüßen Worte weitergibt, die Cyrano ihm zuflüstert. Roxane ist überwältigt von Christians Esprit und willigt ein, ihn zu heiraten. Kurz vor einer Schlacht trifft Roxane, die es – trotz oder wegen der täglichen Liebesbriefe – vor Sehnsucht in Paris nicht mehr ausgehalten hat, im Lager ein. Als Christian spürt, dass sie nicht ihn, sondern die von Cyrano verfassten Liebesbriefe liebt, stürzt er sich selbstmörderisch in die Schlacht, wird schwer verwundet und gibt Roxane ‚seinen‘ letzten von Cyrano verfassten Brief, bevor er stirbt. Die Wahrheit nimmt er mit ins Grab, und auch Cyrano bringt es nicht übers Herz, Roxane über die wahre Identität des Briefeschreibers aufzuklären. Roxane geht in ein Kloster. Fünfzehn Jahre lang wird sie dort an jedem Samstag von Cyrano besucht. Durch ihn erfährt sie alle Neuigkeiten aus der Stadt. Als ihm auf dem Weg zu ihr vom Dach eines Hauses ein Balken auf den Kopf fällt, vielleicht ein Unglücksfall, vielleicht ein Mordanschlag, schleppt er sich mit letzter Kraft zu ihr ins Kloster. Roxane bemerkt nichts Ungewöhnliches und beginnt, dem Sterbenden – wie immer – Christians letzten Brief vorzulesen. Als Cyrano ihn ihr aus der Hand nimmt und ihn – trotz der eingetretenen Dunkelheit – weiter vorträgt, erkennt sie, dass er der wahre Verfasser der Briefe ist.
Uraufführung: 28.12.1897, Théâtre de La Porte St. Martin, Paris
(Titelrolle: Constant Coquel d. Ä., Regie: Louis Péricaud)
Deutschsprachige Erstaufführung: 14.9.1898, Deutsches Theater, Berlin
(Titelrolle: Josef Kainz, Regie: Otto Brahm)
Edmond Rostand und „Cyrano de Bergerac“
Übersicht Biografie und Werk
Am 28. Dezember 1897 fand am Théâtre de la Porte Saint-Martin die Uraufführung von Edmond Rostands romantischem Versdrama „Cyrano de Bergerac“ statt. Zeitgenössische Berichte schildern die Begeisterung des Publikums, das den 29-jährigen Autor eine volle Stunde lang mit Beifall überschüttete – ein Vorgeschmack auf den legendären Siegeszug, den die brillante Mantel- und Degenkomödie rund um den Globus antreten sollte. Der bis dato als Schriftsteller nur mäßig erfolgreiche Autor stieg kometenhaft am Himmel der verwöhnten französischen Literaturszene auf.
Vom No-Name zum Weltstar
Rostand gelang mit seinem Stoff ein echter Glückgriff. Europaweit ebbte der Siegeszug des französischen Naturalismus à la Guy de Maupassant oder Émile Zola allmählich ab und mit ihm das Verlangen des Publikums nach gesellschaftlich, sozial und politisch brisanten Themen, die diese beiden und viele andere Schriftsteller erstmals ins Zentrum ihrer Kunst gerückt hatten. Eine übersättigte Belle Époque sehnte sich nach Amüsement, leichter Kost in edlem Ambiente. Das lieferte Rostand im Übermaß: In seinem komödiantischen Versdrama voller Ironie und Witz verband er eine weit zurückliegende Epoche der höfischen Ritterlichkeit mit robuster Mantel- und Degen-Romantik, eine unerfüllte Lovestory voller Entsagung und Edelmut mit einem Drama um innere Schönheit in missgestalteter Erscheinung, angereichert mit dem beliebten Fin de Siècle Topos des verkannten poetischen Genies. Es sind die Ingredienzien eines seit mehr als 120 Jahren anhaltenden Welterfolgs.
Rostand zwischen Beruf und Berufung
Zum Glück für sehr viele Theaterbesucher war der am 1. April 1868 als Sohn eines Soziologen und Journalisten geborene Edmond Eugène Alexis Rostand kein Aprilscherz. Der zukünftige Autor eines der weltbesten Stücke gehörte zu der gebildeten wohlhabenden bürgerlichen Mittelschicht Frankreichs und zog nach der Schulzeit am Gymnasium in seiner Geburtsstadt Marseille nach Paris, um nach dem Willen des Vaters an der Sorbonne Jura zu studieren. Nach Abschluss des aufgezwungenen Studiums entschied er sich aber für eine Laufbahn als Schriftsteller und Dramatiker. Sehr erfolgreich begann seine Autorenlaufbahn nicht! Das Prosawerk „Der rote Handschuh“, das er 1888 zusammen mit dem Stiefbruder seiner zukünftigen Frau, der Schriftstellerin Rosémonde Gérard, verfasste, fand kaum Zuschauer, und von seiner 1890 erschienenen Gedichtsammlung „Les Musardises“ wurden nur 30 Exemplare verkauft. 1890 – im Jahr ihrer Hochzeit – erschienen auch Rosémondes Gedichte „Les Pipeaux“. 1891 bewarb Rostand sich ohne Erfolg mit „Die Romantischen“ an der Comédie–Française. In der Typenkomödie identifiziert sich ein Liebespaar mit Romeo und Julia. Um die schwärmerisch romantischen Gefühle ihrer Kinder zu fördern, tun die Eltern zum Schein so, als wären sie zerstritten. Das Musical „The Fantasticks“ (Musik: Harvey Schmidt, Buch, Song-Texte: Tom Jones), das beim EURO-STUDIO Landgraf mit Benno Kusche und Hannes Jaenicke auf Tournee war, basiert auf diesem Lustspiel. 1894 wurde zu Rostands Glück das Werk als ein Stück eines dreiteiligen Abends doch noch uraufgeführt und von dem Kritiker Jules Lemaître in Impressions de théâtre als »brillant und vor Geist sprühend« bezeichnet. Dieser Erfolg blieb den Pariser Theaterverantwortlichen natürlich nicht verborgen, und so kam es zu einer Zusammenarbeit mit zwei der bedeutendsten Theater-Ikonen seiner Zeit: Mit dem Comédie-Française-Schauspieler Constant Coquelin d. Ä. und mit Sarah Bernhardt.
Rostand, der sich immer gewünscht hatte, einmal ein Stück über das anekdotenreiche Leben seines Jugendidols, den fechtenden Nationalhelden Cyrano de Bergerac zu verfassen, sah die Verwirklichung seines Traums in greifbarer Nähe, als der vielseitige Schauspieler Coquelin ihn bat, ihm etwas auf den Leib zu schreiben. Das war die Geburtsstunde der Romantischen Komödie, die seit mehr als 120 Jahren weltweit zu einem der Lieblingsstücke des Theaterpublikums gehört.
Edmond und die »göttliche« Bernhardt
Neben Coquelin erkannte der untrügliche Theaterinstinkt seiner Kollegin Sarah Bernhardt das Talent des 20 Jahre jüngeren „Die Romantischen“– Dichters. In der auch in Erfüllung gehenden Hoffnung auf außergewöhnliche Rollen – wurde sie zu seiner Mäzenin. 1895 spielte sie in ihrem nach ihr benannten Theater das suggestive, dem Topos der höfischen Hohe Minne-Literatur des Mittelalters nachempfundene Versdrama „Die ferne Prinzessin“ („La princesse lointaine“). Wie später bei „Cyrano“ gestaltete Rostand schon in diesem Stück die Rollen nach historischen Personen. Vorbild für die für die Bernhardt geschriebene Titelrolle der Prinzessin war Melisante – im Stück Mélissinde, die Comtesse de Tripoli –, für ihren Mitspieler war es der französische Adlige Jaufré Rudel, einer der bedeutendsten Troubadoure des 12. Jhs., dessen Biografie „La vida breve“ die Handlung folgt: Ohne sie jemals gesehen gesehen zu haben, wird die Prinzessin, von deren Schönheit und Tugend ihm berichtet wurde, zur unerreichbaren Ideal-Geliebten des provenzalischen Minnesängers. Er besingt sie sehnsuchtsvoll in seinem berühmt gewordenen Minnegedicht, von dem Text und Musik noch erhalten sind und bis heute aufgeführt werden. Als er erfährt, wo die ferne Geliebte lebt, beschließt er, sie zu sehen, wird aber während der Reise schwer krank und stirbt in ihren Armen. Trotz des großen Erfolgs der Aufführung mit der von dem populären Jugendstil-Maler Alfons Mucha entworfenen Ausstattung gab es nur wenige Vorstellungen. Dafür wurde die Buchausgabe unglaubliche 30.000 Mal verkauft!
Mit „Die Samariterin“wählte er für das zweite Stück einen biblischen Stoff. Sarah Bernhardt spielte die Ehebrecherin Photine, die dem Evangelium folgend Jesus am Jakobsbrunnen trifft und seine Jüngerin wird.
Aufstieg in den Theater-Olymp
In demselben Uraufführungsjahr wie „Die Samariterin“ ging am 28. Dezember 1897 am Pariser Théâtre de la Porte Saint-Martin die heroische Komödie „Cyrano de Bergerac“ über die Bühne, durch die Rostand mit Recht weltberühmt wurde.
Vorbild für den wortgewandten draufgängerischen Edelmann war der durch dieses Stück wieder entdeckte geniale Autor von Prosawerken, Theaterstücken und utopischen Romanen Hector Savinien de Cyrano, der sich als Schrif tsteller nach einem Lehen seines Vaters »de Bergerac « nannte. Eine bessere Vorlage für seinen temperamentvollen Helden, der seine Schwäche und Verletzlichkeit hinter seiner Angrif fslust versteckt, hätte Rostand kaum finden können. Der Lebenswandel des Gascogner Kadetten, der sich mit den Spöttern über seine große Nase sofort duellierte und erst 36 Jahre alt – nach einem Unfall oder Mordanschlag – s tarb, war schon zu seinen Lebzeiten Legende.
Nicht nur durch die effektvollen Szenen der turbulenten Handlung, sondern auch durch eloquenten Witz sorgte die zeitlose Geschichte des wohl hoffnungslosesten unerwidert Liebenden der Weltliteratur für überfüllte Theater in Paris (400 mal spielte Constant Coquelin den Wortkünstler mit gebrochenem Herzen am Porte Saint-Martin, bevor er auf eine Frankreich-Tournee ging).
Es gab aber auch zwei formale Gründe für den Erfolg: Nach den naturalistischen Prosastücken sehnte sich das Publikum der Belle Epoque nach einer Unterhaltung, die ebenso den Verstand wie das Gefühl ansprach – und da war ein rasant fechtender Cyrano aus der abenteuerlichen Epoche höfischer Mantel- und Degen-Stücke des 17. Jahrhunderts natürlich eine willkommene Veränderung. Für die Franzosen wohl noch wichtiger war die zweite Erklärung: Ebenso souverän wie schon seine anderen Werke, hatte Rostand auch dieses Stück in virtuosen Alexandrinern geschrieben und knüpfte damit an das kulturelle Erbe der klassischen Versdramen von Molière und Corneille an.
Die feine Balance zwischen Tragik und Komik machte die Komödie „Cyrano de Bergerac“ schnell auch international zu einem Dauerbrenner. Nach den hymnischen Premierenberichten wurde die Komödie sowohl in französischer Originalsprache gespielt – der Pariser Darsteller gastierte mit seiner Vorstellung in Nordamerika – aber in kürzester Zeit auch in deutsch-, niederländisch- und italienischsprachigen Übersetzungen. In England und in den USA wurde die englische Ausgabe gespielt und gelesen. Obgleich er den Theateralltag schon bei Sarah Bernhardt kennengelernt hatte, geriet Rostand zum ersten Mal in die unbarmherzige Theatermühle. Da das Premierendatum für die Produktion schon feststand, musste „Cyrano de Bergerac“ innerhalb kurzer Zeit fertig sein. Und nach dem Sensationserfolg kam er erst recht nicht mehr zum Nachdenken. Die Öffentlichkeit forderte ihren Tribut von dem ‚Prominenten‘: Als ebenso gewinnbringender wie liebenswert zugkräftiger Werbeträger musste er ständig bereit sein für öffentliche Auftritte, Fotos mit seiner Familie und Interviews. Nach wem er sicher immer wieder gefragt wurde, wen er aber ebenso sicher nie verraten hat, ist der Urheber des Rezepts für den Mandelkuchen, den Pâtissier Ragueneau in der zweiten Szene des II. Aktes backt. Kaum extra erwähnt werden muss, dass der Cyrano-Schauspieler Constant Coquelin ihn sofort um eine neue Rolle gebeten hatte.
Napoléon II. – eine Hosenrolle für Sarah
Rostand musste aber zuerst das Historiendrama über Napoléon II., den einzigen legitimen Sohn Kaiser Napoléons, schreiben, denn Sarah Bernhardt hatte sich für ihren Auftritt bei der Pariser Weltausstellung von 1900 eine historische Hosenrolle gewünscht. Und die Recherche für dieses Projekt war natürlich sehr aufwendig. Aber wieder gelang es Rostand, Wirklichkeit und Illusion so theaterwirksam zu überblenden, dass er nach dem Geniestreich „Cyrano de Bergerac“ (den Sarah Bernhardt als 69-jährige spielen wird) mit diesem dritten für sie konzipierten Versdrama erneut einen internationalen Triumph feierte. Der Titel „L‘ Aiglon – Der junge Adler“ bezieht sich auf den Spitznamen des Herzogs von Reichstadt, der davon träumte, als Napoleon II. Kaiser von Frankreich zu werden. Sarah Bernhardt war bei der Uraufführung am 15. März 1900 bereits 56 Jahre alt, ihr Sohn 36 und bis ins hohe Alter sorgte sie in der Rolle des im Alter von 21 Jahren im Schloss Schönbrunn an Tuberkulose gestorbenen Kronprinzen für Furore. 283 Mal wurde sie in dieser Paraderolle in ihrem Theater bejubelt, bevor die weltweit gefeierte Schauspielerin damit in Frankreich und im Ausland, vor allem in den USA, auf Tournee ging.
Nach so viel Raubbau an seiner ohnehin nicht sehr robusten Gesundheit brach Rostand nach der „Aiglon“ – Premiere zusammen und schwebte einige Tage in Lebensgefahr. Sein Arzt riet ihm, an einen Ort mit ‚gesundem‘ Klima umzuziehen. Die Wahl fiel auf Cambo-les-Bains im Baskenland am Fuße der Pyrenäen. Abgesehen von notwendigen Besuchen in Paris lebte er in der für sich und seine Familie gebauten Villa Arnaga, in der sich heute ein Rostand-
Museum befindet.
Der Hahn „Chantecler“ und seine »Hymne an die Sonne«
Und er versuchte das dem Cyrano-Schauspieler versprochene Stück zu schreiben. Der Titelheld Chantecler sollte ein gallischer Hahn sein. Die Uraufführung war schon für 1903 angekündigt worden, obgleich es bisher nur den Titel gab. Und weil Rostand wieder unter extremem Zeit- und Erfolgsdruck stand, waren seine Fantasie und seine Kreativität blockiert. Er zweifelte daran, noch einmal Höchstleistungen wie bei den Vorgängerstücken über Cyrano und den jungen Napoleon II. zu erreichen, geschweige sie zu übertreffen. Außerdem kriselte es seit längerem in seiner Ehe. Sie hatte Liebhaber, er Geliebte.
Da seine eigenen romantischen Versdichtungen als Nachfolgewerke von Victor Hugos zu seiner Zeit revolutionären romantischen Dramen (die Tumulte bei der Uraufführung von „Hernani oder die kastilische Ehre“ im Februar 1830 gingen als Schlacht um Hernani in die französische Theatergeschichte ein) bewundert und anerkannt wurden, wurde Rostand gebeten, zum 100. Geburtstag von Victor Hugo im Februar 1902 eine Denkschrift zu schreiben. Die Arbeit an „Un Soir à Hernani“ – so nannte er seine Hommage – verstärkte seine Depression noch zusätzlich.
Obwohl er an seiner Kreativität zweifelte, skizzierte er erste Ideen für das neue Stück. Er plante eine unter einer poetisch-märchenhaften allegorischen Fabel versteckte Gesellschaftssatire. Ungewöhnlich für die Zeit: Alle 69 (!) Charaktere sind Tiere, durch die menschliche Schwächen wie Koketterie, Arroganz, Eitelkeit, Zynismus, falscher Ehr- geiz, Selbstgefälligkeit verspottet werden. Aber wie in allen früheren Werken ging es natürlich auch um die Liebe.
Nicht Coquelin, der ein Jahr zuvor verstorben war, spielte den durch sein ‚hochmusikalisches‘ Krähen landauf, landab berühmten Hahn Chanteclair, der sich – bis er das Gegenteil einsehen musste – einbildete, die Sonne ginge jeden Morgen erst nach seinem wunderschönen Weckruf, seiner »Hymne an die Sonne« auf, sondern Lucien Guitry – auch er ein guter Schauspieler, aber eben nicht der charismatische Coquelin.
Am 7.2.1910 wurde „Chantecler“, das vieraktige, an zwei Tagen und zwei Nächten spielende Stück , das das Publikum seit 1903 herbeigesehnt hatte, endlich im Théâtre de la Porte Saint-Martin uraufgeführt. Léon Blum schrieb in der Comoedia vom 19.2.1910: »„Chantecler“ wurde zu einem der außergewöhnlichsten Ereignisse der Theatergeschichte hochgespielt. Weder bei Beaumarchais’ [von Ludwig XVI. auf Grund der vielen revolutionären politischen Anspielungen vier Jahre lang verbotene Komödie] „Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit“ noch bei Victor Hugos „Hernani oder die kastilische Ehre“ gab es eine solche Erwartung, eine solche Hoffnung, ein solches Fieber. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern erkläre ich, dass „Chantecler“ meine Vorstellung von Rostands Kreativität bereichert hat. Vor allem anderen bewundere ich, dass er, anstatt sich mit einem neuen „Cyrano“ einen neuen Triumph zu sichern, ein Risiko einging. Ich bewundere außerdem, dass er etwas Außergewöhnliches versuchte. Ich möchte hinzufügen, dass „Chantecler“ aufgrund seines literarischen Wertes das grandioseste Werk ist, das Rostand bisher geschrieben hat. Nie zuvor hat er seine Berufung zum Künstler und Dichter überzeugender unter Beweis gestellt. Weder „Cyrano“ noch „L‘ Aiglon“ erreichen das Format der besten Teile von „Chantecler“. Ich muss aber auch zugeben, dass es nicht der unbes trittene, einstimmige Triumph war, den die Freunde des Autors erhofft und die Öffentlichkeit in erwar tungsvoller Vorfreude mit ihnen ersehnt hatte.« Kürzungen sind nicht gekennzeichnet. Der Text in eckigen Klammern ist eine Ergänzung der Redaktion.
Obwohl „Chantecler“ auch von anderen Kritikern als erstrangiges, gesellschaftlich gewichtiges und einschneidendes Werk gelobt wurde, beur teilten andere Rezensenten das Stück als mittelmäßig. Besonders von den nationalistischen Zeitungen gab es hasserfüllte Attacken und Kommentare. Rostand hatte sich viele politische Feinde gemacht, weil er sich für den 1894 vom Obersten Kriegsgericht wegen Landesverrats verur teilten Alfred Dreyfus eingesetzt hatte. Rostand kehr te in seine Villa Arnaga zurück. Inzwischen ist der Rang des Stücks, das das Publikum von Anfang an als Meisterwerk liebte, unbestritten. So wie spätere Zuschauer, z. B. die des Festivals in Avignon 1984, als die liebevoll porträtierten Tiere zum überregional beachteten Überraschungserfolg wurden, feierten Rostands Zeitgenossen, dessen Lust und List bei der Charakterisierung der Rollen. Im immer überfüllten Theater wurde das Stück nach der Uraufführung im Februar bis zum 1. November – oftmals mit Doppelvorstellungen – 300 Mal gespielt. Anschließend gingen drei verschiedene Produktionen in Frankreich und USA auf Tournee. Schon im Januar 1911 gab es eine Inszenierung am Broadway!
Genau 100 Jahre nach der „Chantecler“-Uraufführung am 7.2.1910 wurde in Frankreich im Februar 2010 eine neue Buchausgabe veröffentlicht. Weil Rostand trotz der gemischten Reaktionen überzeugt war, dass die Qualität des Stücks der des „Cyrano de Bergerac“ entsprach, kehrte der Glauben an seine Berufung zurück, und als sein Freund, der Schauspieler Charles Le Bargy, ihn um ein Stück für seinen für Ende des Jahres 1911 geplanten letzten Auftritt an der Comédie–Française bat, erinnerte Rostand sich an die Fragmente, die er für „Die letzte Nacht des Don Juan“ notiert hatte.
Sein so geistreicher wie origineller Beitrag zur Don-Juan-Literatur beginnt mit einem Prolog dort, wo Molières Komödie „Don Juan oder Der steinerne Gast“ und Mozarts Oper enden: mit Don Juans Höllenfahrt. In der heimlichen Hoffnung, dass er ihn vergisst, schlägt Don Juan dem Teufel ein Geschäft vor: Als Gegenleistung für zehn weitere Lebensjahre stellt er ihm viele neu verführte weibliche Höllenopfer in Aussicht. Rostand lässt offen, ob der Teufel auf diesen Handel eingeht. Die beiden Teile des Stücks beginnen nach Ablauf der zehn Jahre, als Don Juan einen Marionettenspieler in seinem Palast in Venedig empfängt. Es ist der Teufel, der ihn natürlich nicht vergessen hat und ihn in einem schauerlichen Tribunal mit den angeblich von ihm verführten Frauen konfrontiert. Nicht eine erkennt Don Juan wieder, wodurch er keinen Beweis seiner behaupteten Verführungskunst antreten kann. Da er also nie würdig war, in die Hölle aufgenommen zu werden, muss er für alle Ewigkeit als seine eigene Verführer-Marionette im Puppentheater des Teufels auftreten.
Rostand begann die zwei Teile zu ergänzen, wurde aber zu der geplanten Abschiedsvorstellung des Schauspielers nicht fertig. „Die letzte Nacht des Don Juan“, das im Nachlass gefundene durch den ersten Weltkrieg unvollendet gebliebene Dramatische Gedicht in zwei Teilen und einem Prolog, wurde im März 1922 im Théâtre de la Porte Saint-Martin uraufgeführt. Spielvorlage war die 1921 posthum veröffentlichte Druckausgabe mit einem von den Herausgebern vervollständigten Prolog, die bis heute Grundlage
aller Produktionen ist.
1914 meldete sich der 47-jährige Rostand freiwillig zum Wehrdienst im Ersten Weltkrieg, wurde aber abgelehnt. Er schrieb patriotische Gedichte, die 1915 unter dem Titel „Der Flug der Marseillaise“ veröffentlicht wurden. 1915 verließ er seine Frau, nachdem er die junge, 1895 in St. Petersburg geborene grandiose Schauspielerin Mary Marquet kennengelernt hatte, die während der letzten drei Jahre seines Lebens seine Geliebte war. Edmond Rostand starb am 2. Dezember 1918 im Alter von 50 Jahren an der damals weltweit grassierenden Spanischen Grippe-Epidemie. Er war nicht in Cambo-les-Bains, sondern in Paris und hatte sich angesteckt, als er eine Probe seiner Sarah Bernhardt versprochen Neufassung von „Die ferne Prinzessin“ besuchte.
Rostands Cyrano de Bergerac ist keine fiktive Theaterfigur
Historisches Vorbild ist Hector Savinien Cyrano de Bergerac, der in der ersten Hälfte des 17. Jhs. lebte. Zeitgenössische Stiche, auf denen der Autor zu sehen ist, zeigen, dass selbst die bekannteste Nase der Theatergeschichte nicht von Rostand erfunden wurde. Auch dass der berühmtberüchtigte Spötter und legendär streitsüchtige Draufgänger, der weder einer Auseinandersetzung mit dem Degen noch mit Worten aus dem Weg ging, zu den talentiertesten, vielseitigsten und stilistisch bestechendsten Schriftstellern seiner Epoche gehörte, beruht auf Tatsachen. So wie Rostand nach der Uraufführung des durch seine außerordentliche Intensität beeindruckenden „Cyrano de Bergerac“ zum Jahrhundertautor wurde, erlebte auch das in der romantischen Komödie anspielungsreich porträtierte historische Vorbild und sein unterschiedlichste Genres umfassendes Werk (u. a. zwei Theaterstücke) eine bis heute anhaltende Renaissance. 350 Jahre nach Bergeracs Tod wurden 2005 die 1657 bzw. 1662 erschienenen utopischen Romane „Die Reise zur Sonne“ und „Die Reise zum Mond“, durch die der Pariser Schriftsteller als einer der Urheber und Klassiker des Sciencefiction-Romans gilt, erstmals in ungekürzter Fassung in deutscher Sprache publiziert (herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Tschöke. Verlag Eichborn Berlin, Frankfurt am Main 2005).
Der Autor hat die Veröffentlichung dieser beiden zeitkritischen Reiseromane, die zu den Glanzleistungen fantastischer Barockliteratur gehören, nicht mehr erlebt. Erst 36 Jahre alt stirbt auch der Original-Cyrano, dem Rostand in seinem bewundernswerten Bilderbogen-Panorama ein bravouröses Denkmal gesetzt hat, an den Folgen einer bei einem Unfall oder Mordanschlag erhaltenen schweren Verletzung.
Biografien
MARTIN LINDOW
Emotionale Gratwanderungen und größte schauspielerische Intensität verlangten die beiden „Tatort“-Rollen, in denen Martin Lindow im Abstand von nur etwas über einen Monat zu sehen war. Der Geistliche in dem Vater-Sohn-Drama „Borowski und das Haus am Meer“ gehört zu den Rollen, die er besonders gerne annimmt, weil sie ein Geheimnis haben… mehr