Kaum ein anderer Schriftsteller ist zurzeit so gefragt wie Ferdinand von Schirach. Der 1964 in München geborene Strafrechtsverteidiger und Autor wurde als Zehn-jähriger im Jesuiten-Internat in St. Blasien im Schwarzwald eingeschult und machte dort 1984 Abitur. Nach Studium in Bonn und Referendariat in Köln und Berlin ließ er sich 1994 als auf Strafrecht spezialisierter Rechtsanwalt in Berlin nieder. Dass der durch einige Aufsehen erregende Prozesse zum bekannten Strafverteidiger gewordene Anwalt heute nur noch Beratungsmandate annimmt, aber keine Hauptverhandlungen mehr führt, hat einen spektakulären Grund: Die Veröffentlichung von elf Kriminal- und Justizgeschichten unter dem Titel „Verbrechen“ stellte das bisherige Leben des damals 45-Jährigen 2009 total auf den Kopf.
Buchstäblich über Nacht wurde er durch die Kriminalstories, die Fällen aus seiner Anwaltskanzlei nachempfunden waren, nicht nur bei uns, sondern international zum Bestsellerautor. Die Rechte wurden in über 30 Länder verkauft. Für das »meistbeachtete Debüt« erhielt er 2010 den Kleist-Preis, eine der angesehensten Auszeichnungen, die der deutsche Literaturbetrieb zu vergeben hat.
Die suggestiv erzählten Geschichten, in denen er (als Anwalt und Autor) die Lese-rinnen und Leser zum Nachdenken darüber zwingt, was einen Täter zum Täter macht, und warum es zu einem Verbrechen kommt, standen 54 Wochen auf der SPIEGEL-Belletristik-Bestsellerliste. Die theoretische Frage, ob sich der Überraschungserfolg von „Verbrechen“ wiederholen würde, stellte sich erst gar nicht: Als hätten sie nur darauf gewartet, stürmten die Leserinnen und Leser 2010 die Läden und bescherten von Schirachs Nachfolgewerk „Schuld“ sofort den Spitzenplatz der SPIEGEL-Bestsellerliste. »Wie „Verbrechen“, nur besser«, urteilte die Kritik über die 15 verstörenden, sich wieder einer einfachen Kategorisierung entziehenden Geschichten, in denen von Schirach – wie immer unter Wahrung des Persönlichkeits-rechts seiner Mandanten – erneut das Spannungsfeld in den Mittelpunkt stellte, in dem sich Täter und Opfer bewegen. Der 2018 unter dem Titel „Strafe“ erschienene Abschluss der Trilogie wurde 2022 als sechsteilige Serie auf RTL+ veröffentlicht.
Nicht vorhersehbar war, ob von Schirach auch mit einem Roman seine fulminant begonnene literarische Karriere fortsetzen könnte. Aber schon „Der Fall Collini“ über einen politisch brisanten Mordprozess wurde zum internationalen Bestseller, den das Wall Street Journal zu den »10 Best Mysteries 2013« zählte. Ebenso erfolgreich wurde der 2013 veröffentlichte Roman „Tabu“, in dem ein Künstler und ein Anwalt versuchen, zu begreifen, dass Wirklichkeit und Wahrheit verschiedene Dinge sind.
Um aktuelle juristische Fragestellungen geht es in der im August 2014 erschienenen Essaysammlung „Die Würde des Menschen ist antastbar“. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt das Grundgesetz. Aber was heißt Würde? Wie sie angetastet wird, beschreibt von Schirach in den wie immer präzise und überzeugend formulierten, zwischen 2010 und 2013 für den SPIEGEL geschriebenen Essays. Sie erhalten ihre Dramatik dadurch, dass der Autor aufwühlende Taten dem rationalen Prozess der Rechtsfindung gegenüberstellt. Wie schon die Romane „Der Fall Collini“ 2011 und „Tabu“ 2013 stieg 2014 auch „Die Würde ist antastbar“ auf Platz 2 der SPIEGEL-Bestsellerliste ein. In „Du bist, wer du bist“, einem der darin enthaltenen Essays, schreibt von Schirach über seinen Großvater Baldur. Der für den Abtransport der jüdischen Menschen verantwortliche Gauleiter von Wien wurde 1946 bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zu 20 Jahren Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Der Autor war zwei Jahre alt, als sein Großvater 1966 aus dem Gefängnis Spandau entlassen wurde.
Mit seinem ersten Theaterstück „Terror“ (UA 2015) gelang Ferdinand von Schirach dann auch noch ein fulminanter internationaler Bühnenerfolg. Das Stück wurde in 14 Sprachen übersetzt und beschäftigt seitdem in zahlreichen Inszenierungen das Publikum in Europa, Asien, Australien, Afrika, Nord- und Südamerika. Auf der Website https://terror.theater/ sind die Abstimmungsergebnisse aller Aufführungen des Stückes von 106 Theatern weltweit seit der Uraufführung dokumentiert. Auch die Fernsehverfilmung (ARD/ORF/SRF 2016) erhielt Spitzen-Einschaltquoten und wurde im Anschluss rege diskutiert.
Das Thema Selbsttötung, dem Ferdinand von Schirach sich in „Gott“ (2020) widmete, begleitet den Autor schon seit vielen Jahren. In seinem Buch „Kaffee und Zigaretten“, das im März 2019 Platz 1 der SPIEGEL-Belletristik-Bestsellerliste erreichte und in dem er außer Reportagen und biografischen Erlebnissen auch wieder Zeitthemen zur Diskussion stellt, beschreibt er seinen eigenen Suizidversuch, der ihm mit 15 Jahren kurz nach dem Tod seines Vaters misslang. „Gott sei Dank“, sagte er selbst kürzlich in einem SPIEGEL-Interview (Volker Weidermann, DER SPIEGEL 37/2020, Seite 116f.) „dass ich das nicht hinbekommen habe.“ In demselben Gespräch äußerte er sich zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den §217 für nichtig erklärt hatte, mit den Worten: „Das war ein Jahrhunderturteil. Die Richter stärkten die Autonomie des Menschen, seine freie Verfügung über seinen Lebensentwurf. […] Es war ein sehr berührender Moment, eine Hilfe für die Menschen, ein Urteil für die Freiheit.“
Im Dialog mit Alexander Kluge, mit dem er schon für den 2017 erschienenen Roman „Die Herzlichkeit der Vernunft“ zusammengearbeitet hat, verhandelt von Schirach unter dem Titel „Trotzdem“ (2020) die Frage nach der Gesellschaftsordnung und der bürgerlichen Freiheit während der Corona-Pandemie.
2021 folgte „Jeder Mensch“, ein Plädoyer für die Erweiterung der Menschenrechte im Angesicht der neuen Herausforderungen unserer Zeit, wie etwa dem Klima- wandel oder der voranschreitenden Entwicklung künstlicher Intelligenz.
Der Erzählband „Nachmittage“ (2022) führt den Leser*innen poetisch die Komplexität und Unvorhersehbarkeit des menschlichen Daseins vor Augen.
Seine 2023 erschienene Erzählung „Regen: Eine Liebeserklärung“ vermittelt in Form eines Theatermonologes die Gedanken und Gefühle eines Mannes, der gegen seinen Willen zum Schöffen berufen wird. Im Rahmen der Premierentournee präsentierte der Autor selbst sein Werk auf zahlreichen deutschen Bühnen.
Der im August 2025 publizierte Erzählband „Der Stille Freund“ kletterte dank der hohen Nachfrage noch vor seiner Erscheinung auf Platz 1 der Amazon-Bestsellerliste ´Afrikanische Literatur´.